2015 gehörte ich zu den ersten Liipern, die in Holacracy ausgebildet wurden. Kurz vor Ausbildungsstart habe ich in einem Blogpost meine Hoffnungen und Träume geteilt. Fünf Jahre später begleite ich selbst Unternehmen, die ebenfalls den Sprung in eine agile Organisation wagen. So habe ich die Gelegenheit, einen kritischen Blick auf unsere eigene Transformation zu werfen. Gern beleuchte ich einige Erkenntnisse, die wir unterwegs gewonnen haben. Ich hoffe, das hilft euch, nicht dieselben Fehler zu machen wie wir. :-)
Zur Übergangsphase
«Safe enough to try»
Das Hauptkriterium für unsere rein empirische Entscheidung, auf das Holacracy-Modell umzusteigen, lautete «safe enough to try» (zu Deutsch etwa: Das Risiko ist gering genug, um es zu versuchen). Für einige mag das nach einer Kamikaze-Mission klingen, entspricht aber unserer Einstellung bei Liip: Wir legen los und schauen, was dabei herauskommt.
Natürlich gab es viele gute Gründe für diese Umstellung – nicht zuletzt die Tatsache, dass die Unternehmensstruktur nicht mehr zur Unternehmensgrösse passte. Diese Gründe waren aber kaum dokumentiert, erläutert oder firmenintern kommuniziert.
Das Ergebnis: Unverständnis, Frust und bei manchen das Gefühl, zu etwas gezwungen zu werden, ohne die zugrunde liegende Notwendigkeit wirklich zu verstehen.
Erste Erkenntnis:
- Nehmt euch genügend Zeit, um die Gründe einer Transformation zu ermitteln.
- Kommuniziert: Sprecht (intern) ausgiebig über das «Warum» und erklärt, warum der Status quo nicht mehr erwünscht ist. Oder noch besser: nehmt diese Absicht zum Anlass, um auf verschiedenen Unternehmensebenen den Dialog zu suchen
Zur Begleitung
Wir haben entschieden, uns bei diesem Transformationsprozess begleiten zu lassen – aber auf Distanz und auf ein Minimum beschränkt. Ich denke, es gab mehrere Gründe für diesen Entscheid. Der Hauptgrund stand in direktem Zusammenhang mit dem vorherigen Punkt: Da wir uns in einem Prozess «kontinuierlicher Verbesserung» befanden, der aber nur in beschränktem Masse auf klar definierten Bedürfnisse gründete, war uns das Ausmass der Veränderung nicht bewusst. Wir dachten, es handle sich lediglich um einen weiteren Schritt auf unserem Weg in Richtung Agilität. Die Angebote für die Projektbegleitung erschienen uns folglich zu teuer. Da war sicher auch (falscher) Stolz im Spiel ...
Zu unserer Verteidigung muss man sagen, dass es in der Schweiz zu diesem Zeitpunkt kaum Angebote auf dem Gebiet der Projektbegleitung gab.
Das Ergebnis: enorme Anstrengung, wenig Sichtbarkeit, das Gefühl, planlos und ohne richtige Methode vorzugehen und in alle möglichen Fallen zu tappen. Wir haben uns gut geschlagen – aber was für ein Aufwand!
Zweite Erkenntnis:
- Lasst euch begleiten. Wirklich. Ich sage das nicht, weil es mein Job ist. Setzt es um, mit wem ihr wollt. Aber lasst euch begleiten.
Besonderes Augenmerk auf die Leader legen?
Gute Begleitung ist für den Transformationsprozess im Allgemeinen (Change-Management), aber auch für die (ehemalige) Geschäftsleitung essenziell. Wie kann man glauben, dass die Geschäftsleitungsmitglieder ihren Platz finden und eine neue Haltung entwickeln, ohne dabei persönlich begleitet zu werden? Wir haben das gemacht. Ich rate davon ab.
Die Mitglieder der (ehemaligen) Liip-Geschäftsleitung waren mutig und haben sich sehr im Hintergrund gehalten – für einige war das ganz schön happig. Das muss aber nicht sein. Die ehemaligen Führungskräfte müssen einerseits lernen loszulassen, andererseits müssen sie Spannungen auch weiterhin erkennen und verarbeiten, wie alle anderen Mitarbeitenden auch. Ihre Wünsche, Frustrationen und Verantwortungen erkennen und akzeptieren. Lernen, ausserhalb jeglicher Hierarchie Feedback zu geben und anzunehmen. Klären, wie sie weiterhin Mehrwert fürs Unternehmen schaffen wollen. Das ist ohne Begleitung nicht einfach.
Starte, genau da wo die Unternehmung jetzt steht
Holacracy zeigt die Unternehmensstruktur klar und deutlich auf. Diese Klarheit macht es erforderlich, Entscheidungen zu treffen. Wollen wir die Projektteams nach Standort (Lausanne, Zürich etc.) organisieren oder sie als Einheiten gruppieren («Produktion» etc.)? Soll es ein zentrales Marketing oder eine Marketing-Abteilung pro Markt geben? Wollen wir uns nach Produkten oder nach Kundensegmenten organisieren?
Zuerst dachten wir, wir könnten die Struktur einfach nach und nach, ohne grosse Vorbereitung entstehen lassen. Was für eine Zeitverschwendung!
Seither werden wir nicht müde, folgenden Rat zu geben: beginnt damit, das Bestehende bildlich darzustellen – vorerst, ohne es optimieren zu wollen. Holacracy macht es möglich, Bestehendes sukzessive zu optimieren, sobald alles dokumentiert ist.
Dritte Erkenntnis:
- Geht von der bestehenden Struktur aus – egal, wie unattraktiv sie erscheinen mag.
Was für die Rollen gilt, gilt auch für alles andere: die Unternehmensstrategie, die Arbeitsbedingungen, die Weiterbildungsmöglichkeiten ...
Das Motto lautet: Eine explizite Darstellung der Dinge ermöglicht deren Entwicklung.
Holacracy ist nicht alles
Das Vier-Quadranten-Schema half uns zu verstehen, bei welchen Aspekten uns Holacracy dienlich sein würde (für das Operative und die Struktur – d. h. die rechte Seite des Schemas). Es zeigte uns aber auch auf, dass Holacracy nicht das Wundermittel gegen alle Schwierigkeiten ist.
Nebst dem operativen Aspekt (wie kann man die Wertschöpfung der Teams transparent machen) bringt Holacracy eine neue Ebene ins Spiel: die Governance. Wo und wie macht man die Unternehmensstruktur transparent und wie kann man sie entsprechend der jeweiligen Anforderungen weiterentwickeln. Das ist gut. Nein, sogar sehr gut. Dadurch können sich die Teams vollkommen selbstständig und eigenverantwortlich organisieren – sowohl in Bezug auf die geleistete Arbeit als auch in Bezug auf deren Organisation. Aber das ist noch nicht alles.
Die vier Quadranten haben uns eine erste Grundlage geliefert, die verschiedenen Unternehmensdimensionen zu verstehen. Und uns aufgezeigt, dass uns Holacracy auf den Gebieten «persönlicher Raum» und «zusammenleben» (kollektiver Raum) keine Lösungen bietet. Dabei muss sich neben den strukturellen Veränderungen auch auf diesen Gebieten vieles ändern. Nur so kann die gewünschte Selbstorganisation erreicht werden. Wenn es zum Beispiel keine Führungskräfte mehr gibt, die Probleme erkennen und benennen, müssen alle Mitarbeitenden den Mut dazu aufbringen, Arbeitskolleg*innen direkt anzusprechen – beispielsweise auf schlechte Leistungen. Und das, wenn möglich, auf angemessene Weise ...
Mit unseren Kund*innen verwenden wir heute umfassendere Modelle, um besser zu verstehen, welche Unternehmensdimensionen direkt oder indirekt weiterentwickelt werden sollen.
Vierte Erkenntnis:
- Die Transformation muss ganzheitlich angegangen werden und alle Unternehmensdimensionen berücksichtigen.
Wie andere agile Methoden hat Holacracy insbesondere den Vorzug, Probleme aufzuzeigen, ohne zwangsläufig vorgefertigte Lösungen zu liefern. Diese Transparenz bietet bei jeder Etappe neue Erkenntnisse: Übertragung von Verantwortung, Feedback, Wohlwollen, ... Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft sich wer in den letzten fünf Jahren bei Liip unglaublich weiterentwickelt hat.
Ergebnisse
Nach fünf Jahren praktischer Arbeit mit Holacracy wage ich zu behaupten, dass Liip zu einem erfahrenen, selbst verwalteten Unternehmen geworden ist. Trotzdem ist natürlich nicht alles perfekt und wir lernen weiterhin laufend dazu.
Holacracy ist keine Patentlösung, aber ein fantastisches Tool, um sich durch Experimentieren zu entwickeln: Wie müssen wir uns organisieren, um Mehrwert zu schaffen, wie können wir an Verantwortlichkeiten, Vertrauen etc. arbeiten – und das auf iterative Weise.
Es war nicht immer einfach. Aber wir können das Unternehmen heute immer mehr nach unseren Vorstellungen gestalten. Es ist eine Reise, die nie endet. Und das ist gut so!
Du möchtest dich und dein Unternehmen in Richtung «Holacracy» entwickeln? Dann bedenkte Folgendes:
- Seid euch über das «Warum» im Klaren
- Lasst euch begleiten
- Geht vom Bestehenden aus und entwickelt euch Schritt für Schritt weiter
- Überlegt euch, welche Aspekte nebst Holacracy weiterentwickelt werden müssen
Bildquelle: loopapproach.com/en/book