Dieser Artikel wurde von Gerhard Andrey und Philipp Egli Jung verfasst und ist ursprünglich in der Zeitschrift für Führung und Organisation, Ausgabe 6 2016 erschienen.

Neue Ansätze der Firmenführung werden in den Medien meist positiv besprochen. Der Blick in die Kommentarspalten zweier kürzlich veröffentlichten Online-Publikationen über Holacracy zeigt jedoch, dass es durchaus kritische Stimmen gibt. [1] Erstaunlich oft liest man sinngemäß die Kritik: »Alter Wein in neuen Schläuchen«; die Kommentierenden versuchen jedoch meist, das nicht ganz Fassbare durch einen »Filter« aus klassischen Konzepten der Unternehmensführung zu erfassen. Deshalb schimmert durch diese Kritik auch immer wieder hierarchisches Denken.
Hierarchische Organisationen haben Großartiges geleistet, stoßen aber bei der heute herrschenden Komplexität an ihre Grenzen. Das ist auch ein zentraler Punkt, der in der Diskussion von Laloux und Robertson immer wieder genannt wird. [2] Holacracy bedeutet nicht, dass es keine Struktur, keine Regeln oder keine Ordnung mehr gibt – im Gegenteil: Das Ordnungsprinzip ist nicht mehr die Machtstruktur, sondern die Art und Weise, wie Arbeit in einem Unternehmen erledigt wird. Zudem ist diese Struktur nicht mehr statisch, sondern sie wird von allen Personen, die im Unternehmen arbeiten, laufend weiterentwickelt.

Abb1: Kreise und Rollen

Ausgangslage bei Liip

Liip ist eines der führenden Schweizer Unternehmen im Bereich Web-Applikationsentwicklung und es gab schon immer Bestrebungen, Hierarchien, wo sie unvermeidbar schienen, so flach wie möglich zu halten.
In der IT-Branche und in der Agentur-Welt gibt es hohe Anforderungen an die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens. Durch die Projektarbeit gibt es zudem weitere organisatorische Anforderungen. Die Firma Liip ist seit jeher in zwei Sprach- und Kulturräumen angesiedelt. In der Französischen und in der Deutschen Schweiz. Dadurch steigen die Anforderungen an ein zu wählendes Managementsystem. Handlungsbedarf entstand dann vor allem durch das starke Wachstum des Unternehmens. Das bisherige System mit flachen Hierarchien skalierte nicht mehr.
Aus diesem Grund hat das Management 2013 einen Großteil der Verantwortung den Teams übertragen. Dazu wurden diese multifunktional aufgestellt. Das bedeutet, dass alle Teams alle nötigen Ressourcen und Kompetenzen zur Erledigung der täglichen Arbeit an Bord haben. Ausgenommen davon sind einige Querschnittsfunktionen wie HR, Finanzen und Kommunikation – sie stehen den Teams beratend zur Seite. Über die Strategie, Kundenakquise, eingesetzte Technologien und die Anstellung neuer Mitarbeitenden entscheiden die Teams selbst. Lediglich drei Grundsätze gilt es zu beherzigen: glückliche Kunden, glückliche Mitarbeiter und finanzielle Gesundheit.
Die Querschnittsfunktionen waren aber noch nicht klar geregelt: Sie waren oft mit einer Managementfunktion gepaart. Das führte mittelfristig zu einem Kommunikationsproblem. Viele Mitarbeiter erwarteten vom Management (trotz weitreichender Selbstbestimmung) gewisse Entscheidungen, die das Management aber gar nicht in seiner Verantwortung sah. Umgekehrt fühlten sich die Teams durch die Entscheidungen des Managements oder der Querschnittsfunktionen eingeschränkt.

Die ersten Schritte mit Holacracy

Ein weiterer Ausbau der Hierarchie auf zwei Ebenen kam nicht in Frage. Ende 2015 haben wir uns bei Liip dazu entschlossen, das Experiment zu wagen. Eine kleine Gruppe von Mitarbeitern und das Management haben die Holacracy-Practitioner-Ausbildung besucht und sich danach umgehend an die Implementierung von Holacracy gemacht.
In der Holacracy-Konstitution, momentan in der Version 4.1 verfügbar, ist das ganze System beschrieben. Die zentralen »Bausteine« von Holacracy sind Rollen (Roles) und Kreise (Circles). Sie sind die eigentlichen Holons: autark und in sich handlungsfähig, aber auch Teil des Ganzen (vgl. Abb.1). Jeder Kreis und jede Rolle hat einen Zweck (Purpose), Verantwortlichkeiten (Accountabilities), Domains und Policies. Kreis und Rolle unterscheiden sich dadurch, dass ein Kreis weitere Rollen beinhalten kann. Zudem beherbergen Kreise auch die Standardrollen: Lead Link, Rep Link, Facilitator und Secretary. Sie stellen die Funktionen des Kreises sicher.
Die Kommunikation zwischen den Kreisen ist klar geregelt und beinhaltet das Prinzip der Gewaltentrennung. Der Rep Link bringt Informationen aus dem Kreis in den übergeordneten Kreis, der Lead Link bringt die Informationen aus dem übergeordneten Kreis in den untergeordneten Kreis (vgl. Abb.1). Der Secretary dokumentiert die Entscheidungen und die Struktur des Kreises und hilft in Fragen der Auslegung der Konstitution weiter. Der Facilitator ist der Zeremonienmeister und moderiert die Meetings. Holacracy kennt zwei Meeting-Typen: An der Organisation können Mitarbeitende in den Governance Meetings arbeiten, in der Organisation wird in Tactical Meetings und im Tagesgeschäft gearbeitet.

Holacracy bietet keine Rezepte wie ein bestimmtes organisatorisches Problem gelöst werden kann, sondern lediglich Strukturelemente (Rollen und Kreise mit Verantwortlichkeiten), mit deren Hilfe eine Organisation abgebildet werden kann. Brian Robertson vergleicht Holacracy an verschiedenen Stellen mit einem Betriebssystem. [7] Die Implementierung eines spezifischen organisatorischen Problems wäre nach dieser Logik eine Applikation.

Arbeit in der Firma und an der Firma

Bei Liip haben wir uns dazu entschieden, die bestehenden Strukturen abzubilden, ohne diese vorher zu optimieren. Die Optimierung soll dann im Prozess von Holacracy selbst stattfinden.
Den äußersten Kreis bildet die Aktiengesellschaft, sie ist der juristische Mantel des Unternehmens. Der Zweck des äußern Kreises ist es, den Verpflichtungen einer AG nach Schweizer Recht zu entsprechen und die Kernwerte der Firma zu vertreten.
Innerhalb dieses Kreises ist der »General Company Circle« angesiedelt. Er enthält die Rollen und Kreise des Unternehmens. Die einzelnen Standorte sind als Kreise organisiert und somit weitgehend selbstständig. Sie beinhalten die produktiven Teams. Die Querschnittfunktionen General Administration, Personal Administration, Finances und Communication & Marketing sind ebenfalls als Kreise organisiert. Diese Kreise agieren standort- übergreifend. Wo nötig, gibt es Rollen innerhalb dieser Kreise, die mehrfach besetzt sind und einen lokalen Fokus haben.
Eine weitere Gruppe von Rollen und Kreisen bilden die Berater oder Prozessoptimierer. So gibt es dort einen Circle, der sich um die Umsetzung von Holacracy in der Firma kümmert, oder Business Developer mit besonders viel Erfahrung, die kundenorientierte Profile coachen. Momentan gibt es in der Firma 30 Kreise und 340 Rollen. Der Output ist also wirklich beachtlich.
Doch wer hat diese Struktur aufgebaut? In Holacracy ist jeder Mitarbeitende ein Partner und selbstbestimmt. Er kann im Rahmen seiner Rollen oder im Rahmen des Firmenzwecks jede Entscheidung treffen und jede Handlung durchführen, solange er nicht die Domain einer anderen Rolle oder eines anderen Kreises verletzt. Zum Informationsaustausch und zur Planung von Projekten und Aktionen nutzt er das Tactical Meeting oder tauscht sich direkt mit anderen Rollen aus.

Wenn ein Mitarbeitender während seiner Arbeit spürt, dass etwas verbessert werden kann, dann erlebt er eine Tension. Brian Robertson definiert sie als »gap between how things are and how they could be«. [8] Das Gespür der Mitarbeitenden, Ver- besserungspotenzial aus der alltäglichen Arbeit zu erkennen, hält Robertson für eine der wertvollsten Ressourcen eines Unternehmens. [9]
Lässt sich die Tension durch Informationsaustausch, ein Projekt oder eine konkrete Aktion lösen, findet dies direkt im Tagesgeschäft oder in einem Tactical Meeting statt. Betrifft die Änderung die Struktur, das heißt Rolle, Verantwortlichkeit, Kreis, Domäne oder Policy, wird sie in einem Governance Meeting gelöst. Auf diese Weise passt sich die Struktur ständig den Gegebenheiten an, optimiert sich sozusagen selbst.

Das Tal der Enttäuschung

Das Experiment war auf sechs Monate limitiert. Nach der anfänglichen Euphorie trat aber schnell Ernüchterung ein. Die Probleme waren kultureller Art und die Fronten waren festgefahren. Um mit dem gartnerschen Hype-Zyklus zu sprechen (vgl. Abb.2): Wir befanden uns im »Tal der Enttäuschung«.
Eine Umfrage, in der sich alle zum Holacracy-Experiment äußern konnten, brachte neben durchaus positiven Stimmen genügend negative zum Vorschein, die ernst genommen werden wollten: Das System sei zu bürokratisch oder zu hierarchisch. Wichtige Personen seien plötzlich in den Meetings nicht mehr eingebunden. Das System sei kalt und unpersönlich. Die Meetings dauerten zu lang.

Abb2: Die Stationen der Implementierung

Diese Reaktionen hängen wohl auch damit zusammen, dass bei Liip schon vor der Einführung von Holacracy flache Hierarchien existierten. Der positive Effekt der Selbstbestimmung wurde somit stark abgeschwächt. Eine Kollegin prägte in diesem Zusammenhang den Ausdruck »Do-acracy«. Oder anders ausgedrückt, bei Liip galt schon vor der Einführung von Holacracy folgender Grundsatz: Wer macht, hat Macht. Weiter geht Holacracy unter Umständen zu stark davon aus, dass ein Unternehmen zuvor hierarchisch organisiert war (vgl. Abb. 3). In einem bisher hierarchisch gegliederten Unternehmen erleben Mitarbeitende aus den unteren Hierarchiestufen das Mitspracherecht als Befreiung. In einem Unternehmen wie Liip, das bereits flache Hierarchien und wenig Struktur hatte, ist dieser Effekt weniger gut sichtbar. Im Gegenteil: Da Holacracy sehr viel Struktur hat, wird sie von einigen als bürokratisch oder gar hierarchisch empfunden.
Mitarbeitende bei Liip haben schon immer sehr viel unternehmerische Verantwortung übernommen. Dadurch konnten sich Personen auch »in Szene setzen« und mit ihrer Persönlichkeit Vorbildfunktion übernehmen. Gerade diese persönlichen Strukturen haben das Unternehmen Liip lange getragen. Mit der Einführung von Holacracy fällt dies nun weg. In Holacracy wird klar zwischen dem persönlichen Raum und dem Raum der Rolle unterschieden (vgl. Abb. 4). Menschen agieren nur in ihren Rollen. Das wirkt in einem Unternehmen mit einem starken sozialen Zusammenhalt zuerst befremdlich.

Der Nutzen

Diese rigide Struktur schafft aber auch die Grundlage für Transparenz und zur Vermeidung von Doppelspurigkeiten. Und genau dort liegt auch ihr Nutzen: Ein Unternehmen mit fünf Standorten und über 150 Mitarbeitern in zwei Sprach- und Kulturräumen braucht Struktur – aber eben keine starre Struktur, sondern eine Struktur, die sich potenziell täglich den Gegebenheiten anpasst. Und diesen Nutzen schafft Holacracy.
Zudem sind die Querschnittfunktionen besser geregelt. Die Teams wissen, was sie erwarten können und von welcher Rolle sie es erwarten können. Ist etwas unklar, kann es im Governance-Prozess geklärt werden. Das führt zu einer großen Entlastung für die Personen, die in diesen Funktionen tätig sind.

Abb3: So sieht Holacracy ein klassisches Unternehmen

Entscheidung können heute getroffen werden, ohne auf der Beziehungsebene Konsens zu finden oder sich im ganzen Unternehmen abzusichern. Das ist befreiend und verkürzt bereits nach einem halben Jahr »üben« Entscheidungsprozesse deutlich. So hat sich zum Beispiel in der Marketingabteilung das wöchentliche Koordinationsmeeting von anfänglich einer Stunde oder mehr vor der Einführung von Holacracy auf 15 bis 30 Minuten reduziert. Zudem ist die Firma nun wirklich ohne klassisches Management und Hierarchiedenken organisiert; ein Ziel, auf das wir lange hingearbeitet haben.

Learnings

Wir mussten bei der Einführung von Holacracy schmerzhaft feststellen, dass vor allem die extreme Trennung von Person und Rolle zu Problemen führt. Bei der Einführung wurde dem zu wenig Rechnung getragen. Mittlerweile haben wir aber entsprechende Maßnahmen ergriffen: Vor allem ist es wichtig, Räume zu schaffen, in denen die Personen wieder zu Wort kommen. Wie empfinden sie die neue Struktur, wo haben sie Schwierigkeiten oder wo haben sie Fragen?

Abb4: The four Spaces

Holacracy ist nicht einfach zu verstehen und erfordert viel Denkarbeit und Konzentration von allen Beteiligten. Und es geht darum, alte Verhaltensmuster abzulegen. War früher der Chef Schuld, wenn etwas nicht geklappt hat, steht man nun selbst in der Verantwortung. Konnte man sich früher der Meinung von Kollegen mit Vorbildfunktion anschließen, muss man sich heute selbst Gedanken machen. Nach der Transaktionsanalyse von Berners muss man sich von ungesunden Eltern-Kind-Mustern lösen und erwachsen werden. Das trifft umgekehrt natürlich auch auf ehemalige Kader zu. Robertson verwendet die Archetypen aus dem Dramadreieck: der Retter, der Verfolger oder das Opfer. Sie sind beliebte Rollen und Vehikel der Selbstdefinition bei Mitarbeitern und beim Kader. [10] Die Arbeit mit Holacracy ist die Arbeit jedes Einzelnen an sich selbst. Es kann kein integrales Unternehmen geben ohne Menschen, die sich auf den Weg machen, ganzheitlich zu denken. Und das beinhaltet eben auch, das eigene Ego im Unternehmen zurückzustellen.

Anmerkungen

Anmerkungen
[1] Vgl. Hockling, S.: So kommen Mitarbeiter aus der Hierarchie heraus. In: Die Zeit Online. (http://www.zeit.de), http://tinyurl.com/nh3tezt (letzter Zugriff: 22.7.2016); Saheb, A.: Arbeiten ohne Chef und Hierarchie. In: NZZ Online, (http://www.nzz.ch), http://tinyurl.com/jze4yw5 (letzter Zugriff: 22.7.2016).
[2] Cowan, C.: Five Critiques of Holacracy – Brian Robertson and Frédéric Laloux discuss the case against alternative governance models, (https://blog.holacracy. org), http://tinyurl.com/z8upfwb (letzter Zugriff: 24.7.2016).
[3] Koestler, A.: The Ghost in the Machine, Neuauflage, London 1989.
[4] Wilber, K.: Eine kurze Geschichte des Kosmos, Frankfurt a. M. 1997, S. 40 ff.
[5] Wilber, K.: Integrale Vision: Eine kurze Geschichte der integralen Spiritualität. München 2009, S. 112 f.
[6] Laloux, Frederic: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015.
[7] Vgl. Robertson, B. J.: Holacracy: The New Management System for a Rapidly Changing World, New York 2015, Kapitel 1.
[8] Robertson, B. J.: Holacracy, a. a. O.
[9] Robertson, Brian J.: Processing Tensions, (https://blog.holacracy.org), http://tinyurl.com/jgl9nmt (letzter Zugriff: 22.7.2016).
[10] Vgl. Laloux, F.: Reinventing Organizations, a. a. O., S. 145 f.