Spannende Chancen mit vielen neuen und komplexen Fragen
In der Schweiz hat das Jahr 2018 mit einer Revolution im Strommarkt begonnen. Dank der Energiestrategie 2050 des Bundes und der neuen Energieverordnung (EnV) können Gebäudeeigentümer seit Anfang Jahr erstmals den selber produzierten Solarstrom vom Dach in einer privaten Gemeinschaft, einer sogenannte Eigenverbrauchsgemeinschaften (EVG) oder "Zusammenschluss zum Eigenverbrauch" (ZEV) verkaufen. Für Investoren und Eigentümer von Solaranlagen präsentierte die neue Möglichkeit plötzlich interessante Chancen, mit Solarstrom Geld zu verdienen. Sie brachte aber auch sehr viele neue und komplexe Fragestellungen. Wie genau verrechnet man den eigenen Solarstrom? Wann gelten welche Stromtarife und was ist rechtlich überhaupt erlaubt? Wie gehe ich vor, um eine EVG aufzusetzen und zu betreiben?
Für genau diese Fragen wollten wir eine Antwort anbieten können. In einem gemeinsamen Projekt entwickelten Smart Energy Link und Liip einen neuen Service zum einfachen Verwalten, Steuern und Optimieren von Eigenverbrauchsgemeinschaften - mit einem Kundenportal basierend auf modernen Open Source Technologien als Herzstück.
Knacknüsse lösen mit Service Design, einem crossfunktionalen Team und einem agilen Vorgehen in mehreren Etappen.
Zu Beginn des Projekts standen wir vor einigen grossen Knacknüssen. Zum einen war es eine grosse Herausforderung, sämtliche juristischen, technischen, energetischen und baulichen Vorgaben unter einen Hut zu bringen und dies alles gleichzeitig für die Nutzer einfach zugänglich zu machen. Weiter bewegten wir uns in einem für alle Beteiligten völlig neuen Umfeld. Es gab zu Beginn des Projekts noch kaum Erfahrungen in diesem Gebiet. Entsprechend gab es auch keine Nutzer, die wir befragen konnten. Und nicht zuletzt öffnete die neue Möglichkeit in der Energieverordnung auch für viele Konkurrenten ein interessantes Geschäftsfeld. Ein rasches Time-to-Market war daher zentral, um Smart Energy Link (SEL) einen Pioniervorteil in diesem neuen Markt zu sichern.
Schlüssel zum Erfolg in diesem Projekt waren für uns ein nutzerzentriertes Vorgehen mit Service Design, um zu einer für Nutzer einfachen Lösung zu kommen. Und die agile Umsetzung in mehreren Etappen half uns für ein schnelles Time-to-Market. Weiter konnten wir dank einem crossfunktionalen Team bestehend aus Softwareentwicklern, Service- und User Experience Designern, Juristen und Energieexperten in enger Zusammenarbeit alles benötigte Wissen zusammentragen.
“Die Zusammenarbeit mit Experten aus verschiedensten Bereichen war essentiell für dieses Projekt. Die jetzige Lösung konnten wir nur im Team in dieser Qualität entwickeln - und es macht erst noch viel mehr Spass, zusammen an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten.“ Stefan Heinemann, Softwareentwickler Liip.
Etappe 1: Schnelle Umsetzung einer ersten Version des Angebots, um mit realen Nutzern Erfahrungen sammeln zu können.
Da es im Markt noch keine Erfahrungen im Bereich EVG’s gab, betraten wir mit dem Projekt alle Neuland. Für uns war es essentiell, möglichst rasch mit realen EVG’s und Nutzern Erfahrungen sammeln zu können. Dazu fokussierten wir in der ersten Etappe des Projekts darauf, rasch eine erste funktionsfähige Version der technischen Lösung zu entwickeln um die ersten EVG’s in Betrieb zu nehmen.
Im Zentrum stand dabei die Entwicklung einer ersten Version unseres Kundenportals. Zusätzlich fokussierten wir auf die realtime-Verknüpfung mit der Hardware im Gebäude - den jeweiligen Zählern. Dies machte die riesige Datenmenge der zahlreichen Zähler überhaupt erst zugänglich. Sie stellen heute die absolute Basis für die Steuerung, Optimierung und Abrechnung der EVG’s dar. Dazu haben wir in gemeinsamen Workshops den Kern des Portals und das Datenmodell entworfen, sowie erste Designprototypen entwickelt. Diese setzten wir in 6 Entwicklungssprints nach Scrum um. Im Januar konnten wir pünktlich auf die Swissbau 2018 in Basel eine erste Version einer ganzheitlichen technischen Lösung präsentieren - und gleichzeitig die Inbetriebnahme der ersten EVG’s feiern.
Der schnelle Marktlaunch (GoLive der ersten Version nur vier Monate nach dem ersten Konzeptworkshop) war rückblickend eine wichtige Basis für die Entwicklung des gesamten Services. Einerseits erhielt unser neues Angebot mit bereits konkreten sichtbaren Resultaten früh Aufmerksamkeit bei potentiellen Kunden und Investoren. Andererseits erhielten wir damit konkrete Erfahrungen und Hinweise auf die Bedürfnisse der unterschiedlichen Nutzergruppen unseres Angebots. Dies ermöglichte uns, unseren zukünftigen Service basierend auf realen Nutzerinformationen weiterzuentwickeln - obwohl wir uns in einem Gebiet bewegten, das bis zu Projektbeginn noch gar keine Nutzer hatte.
Etappe 2: Von der technischen Lösung hin zu einem ganzheitlichen bedürfnisorientierten Service - mit Service Design.
Der Launch der ersten Version war für uns auch der Startschuss zur Ausweitung unseres Angebots für Immobilienverwaltungen. Im Rahmen der Understand-Phase von Service Design haben wir die Bedürfnisse und Erfahrungen unserer EVG’s sowie ihrer Immobilienverwaltungen mit Nutzerinterviews evaluiert. Damit erhielten wir faktenbasiert Klarheit über die Bedürfnisse und Pain Points von Immobilienverwaltungen rund um EVG’s.
Wichtigste Erkenntnis war dabei, dass neben einer benutzerfreundlichen Software die nahtlose Integration unseres Angebots in die bestehenden Prozesse von Immobilienverwaltungen ein zentraler Erfolgsfaktor war - um mit EVG’s möglichst wenig Zusatzaufwand zu schaffen. Weiter erkannten wir das einfache Abrechnen von EVG’s als einer der grössten Pain Points der Verwaltungen von EVG’s. Diese Erkenntnisse waren die Grundlage, um in der zweiten Entwicklungsetappe klare Prioritäten zu setzen.
Im Fokus stand dabei, eine einfache und benutzerfreundliche Lösung zu entwickeln, dass Immobilienverwaltungen ohne Aufwand und spezifisches Fachwissen professionell EVG’s abrechnen können. In einem gemeinsamen Ideation-Workshop entwickelten wir Ideen, wie wir das Abrechnen von EVG’s für Immobilienverwaltungen möglichst einfach machen können.
Diese arbeiteten wir später in Service Blueprints im Detail aus und entwickelten einfache Prototypen: Storyboards für den gesamten Service von der Inbetriebnahme bis zur Abrechnung und konkrete Wireframes für die Benutzeroberflächen des neuen Abrechnungsbereichs im Kundenportal.
Auf dieser Grundlage führten wir weitere Nutzertests mit verschiedenen Immobilienverwaltungen durch. In qualitativen Interviews testeten wir einerseits den Service inhaltlich auf Korrektheit und Optimierungspotential. Andererseits iterierten wir mit der sogenannten RITE-Methode auf den Wireframes der neuen Abrechnung im Kundenportal.
Das erneute Nutzertesting hat uns Klarheit darüber gebracht, welche unserer Ideen wir implementieren aber auch, wie wir die Benutzerfreundlichkeit und Verständlichkeit verbessern können. Insbesondere auch die Iteration mit der RITE-Methode brachte sehr viele Erkenntnisse in kurzer Zeit.
“Die Nutzertestings zeigten uns klar, welche Features und Funktionalitäten für unsere Kunden am wichtigsten sind. Die Priorisierung von Features und Tasks ist viel einfacher, wenn basierend auf konkreter Kundenbedürfnisse entwickelt wird. Und wir konnten mit minimalem Aufwand bereits sehr viele Usability-Punkte optimieren.” Tobias Stahel, Geschäftsführer Smart Energy Link
Mit den Erkenntnissen aus dem Nutzertesting und den überarbeiteten Wireframes hatten wir nun die nötigen Grundlagen, um sehr gezielt die Umsetzung in der zweiten Etappe von Entwicklungssprints anzugehen. Diese resultierten nun nach 6 weiteren Sprints im Dezember 2018 in einem weiteren GoLive - unter anderem mit der neuen Möglichkeit in wenigen Klicks eine EVG abzurechnen.
Learnings
Mit diesem zweiten GoLive blicken SEL und Liip nicht nur auf eine intensive gemeinsame Reise, sondern auch auf ein äusserst spannendes und lehrreiches Projekt zurück. Zusammenfassend sehen wir diese zentralen Learnings im Projekt:
1. Nutzerinterviews geben Sicherheit: Die Interviews und die Nutzertests waren inhaltlich für unsere Lösung zentral und gaben während dem Kreativ- und Entwicklungsprozess mehr Sicherheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Sehr hilfreich war insbesondere die Erkenntnis, dass einige unserer ersten Ideen eigentlich gar kein Nutzerbedürfnis waren. Diese haben wir dann gar nicht entwickelt - und somit mit wenigen Tagen Aufwand für Nutzertesting sehr viel Entwicklungsaufwand gespart. Rückblickend hätten wir wohl sogar noch früher Interviews durchführen können - einige der heutigen Funktionen hätten wir wohl mit dem Wissen nach den letzten User Tests gar nicht mehr entwickelt, da sie zwar Nice to have sind, aber keinen fundamentalen Mehrwert bingen.
2. Einfachere Priorisierung durch klare Nutzerbedürfnisse: Die Priorisierung von Tasks und Features ist viel einfacher, wenn auf konkreten Kundenbedürfnissen entwickelt werden kann. In unserem Projekt zeigten die Interviews zudem klar, welche kritischen Erfolgsfaktoren zentral sind (Anbindung an die führenden REM-Systeme, einfach verständliche Nebenkostenabrechnung als wichtigste Funktion). Auf diese Funktionen haben wir dann unsere Anstrengungen konzentriert.
3. Experten aus verschiedensten Gebieten sind essentiell für gute Services: Eine typische Eigenschaft von Service Design Projekten ist die Vielschichtigkeit der Fragestellungen - welche selten von einer Rolle alleine beantwortet werden können. Um in einem so komplexen Umfeld gute Lösungen zu finden, sind crossfunktionale Teams essentiell für eine gute Lösung.
4. Agile Sprints helfen, um schnell das stille Kämmerlein verlassen zu können: Scrum Sprints sind in einem unbekannten Umfeld extrem hilfreich, um Erfahrungen sammeln zu können und ein schnelles Time-to-Market realisieren zu können.
5. Service Design hilft, Komplexes einfach zu machen: Und last but not least: Mit diesem Projekt haben wir einmal mehr festgestellt: Auch in einem technologisch, rechtlich und thematisch hochkomplexen Umfeld kann man nutzerzentrierte Lösungen entwickeln. Service Design als ganzheitliche und nutzerzentrierte Vorgehensweise ist die strukturierte Methode dazu - mit Scrum für eine flexible und schnelle Umsetzung.