In diesem Artikel erfährst du, warum und wie unser Unternehmen, das auf Schlüsselelemente wie Selbstorganisation, Autonomie und Freiheit baut, eine solche Richtlinie eingeführt hat.
Die Zeit war reif
Liip hat eine absolut einzigartige Arbeitskultur. Die Werte der Gründer*innen, die Art der Agenturarbeit, die Einführung agiler Methoden, hybrider Arbeitsformen und Holacracy ... viele organisatorische Faktoren haben die Arbeitskultur von Liip zu etwas ganz Besonderem gemacht. Bei uns werden Individualität und Autonomie (wie auch partnerschaftliche Zusammenarbeit) gross geschrieben – was Vor- und Nachteile mit sich bringt.
Anfang 2022 kam unser People Circle (in anderen Unternehmen aka HR-Abteilung) zum Schluss, dass es an der Zeit sei, einen Verhaltenskodex einzuführen, um gelebte implizite Erwartungen explizit zu machen. Bemerkenswert ist dabei:
- Die Vielfalt hat in vielen Bereichen (kulturelle Herkunft, Generationen, Geschlechter, Glaubensvorstellungen, Arbeitspräferenzen wie Zeit & Ort, Beziehungsstrategien usw.) analog zu Liip’s Wachstum kontinuierlich zugenommen und wird dies auch weiterhin tun. Diese Diversität führt zu mehr Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf erwartetes und tatsächliches Verhalten.
- Wir realisierten, dass mobiles Arbeiten teils als Verstärker für vielfältige und abweichende Verhaltensweisen und wahrscheinlich auch als Verstärker für ein Gefühl des Getrenntseins wirkte – vielleicht sogar als Hindernis für Mitgefühl. Dies, weil die Kolleg*innen auf Distanz weniger oft die Gelegenheit hatten, sich in die Sichtweisen, Gegebenheiten und Realitäten der anderen hineinzuversetzen.
- In dieser «Kultur der maximalen Autonomie» hatten Arbeitnehmende und Arbeitgeber in ihren jeweiligen Rollen nicht genügend organisatorische Klarheit, um gegen das vorzugehen, was sie als unangemessenes Verhalten einstuften – ein Begriff, der eine wertende Komponente beinhaltet.
Den richtigen Prozess wählen
Wir hätten einfach ein Best-in-Class-Beispiel kopieren und auf uns anpassen können. Oder die Templates der Schweizer Regierung als Grundlage für unsere Arbeit verwenden können. Aber wir wussten, dass es kontraproduktiv gewesen wäre, diese Vorlagen oder Beispiele einfach so zu übernehmen und unseren Mitarbeiter*innen vorzulegen.
Wir hätten auch mit einem grossen Open-Space-Event auf Co-Creation setzen können. Doch die Weisheit Vieler – oder mit anderen Worten die kollektive Intelligenz – war nicht die einzige Quelle der Wahrheit, die es hier zu berücksichtigen galt. Uns war klar, dass wir uns mit Rollen und Mitarbeiter*innen als Stakeholder*innen sowie mit subtilen und vielschichtigen rechtlichen Beschränkungen auseinandersetzen müssen.
Deshalb wählten wir einen Mittelweg und entschieden uns für einen partizipativen Prozess, bei dem eine kleine und diverse Arbeitsgruppe, deren Rolle im People Circle verankert war, die Arbeiten leiten und die Mitarbeiter*innen und Stakeholder*innen in den Prozess einbinden sollte.
Unser Prozess hierbei:
- Wahrnehmen & zuhören: das Thema eingrenzen und die Bedürfnisse und Ansichten aller Stakeholder*innen aufmerksam anhören
- Ausarbeiten: die erste Version einer Charta ausarbeiten und ein entsprechendes Gesamtkonzept sowie eine Governance entwickeln
- Feedback einholen: den Entwurf mit den Mitarbeiter*innen und Stakeholder*innen teilen und ihre Inputs, Bedenken und Einwände einholen und einbeziehen
- Fertigstellen & einführen: Dokument «Charta» fertigstellen und in den Arbeitsbedingungen verankern
- Verankern: Sensibilisierung für die Charta und ihre Auswirkungen.
Obwohl sich die Details der einzelnen Schritte im weiteren Verlauf änderten, half uns dieser übergeordnete Prozess und Zeitplan mit einer guten Portion Agilität, auf Kurs zu bleiben und die Beteiligung und Erwartungen aller Involvierten zu klären.
Start, Flug und Landung
Der Prozess wurde zu einer erlebnisreichen, wenn auch manchmal etwas turbulenten Reise.
Wahrnehmen & zuhören
Nach einer sorgfältigen Identifizierung der Beteiligten und der Stakeholder*innen, die an der Charta mitarbeiteten und/oder davon betroffen sind, befragten wir diese kurz zu ihren Bedürfnissen und Gedanken zu diesem Thema. Ein paar wenige vertraten eine klare Meinung, doch die meisten hatten nur vage Vorstellungen und erste Inputs.
Die Umfrage brachte uns aber trotzdem eine wichtige Erkenntnis: Rollen und Mitarbeiter*innenstimmten hinsichtlich der Werte, die in der Charta verankert werden sollten, weitgehend überein. Dies lieferte uns einen Wertebereich, mit dem wir arbeiten konnten.
Durch unsere Interaktionen mit allen beteiligten und betroffenen Personen liessen sich Muster hinsichtlich der Art und Weise erkennen, wie jede/r Einzelne der Idee, eine Charta zu erstellen, gegenübersteht. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse entwickelten wir drei Personas, die beschreiben sollten, wie die Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Idee, die Aktion und das Endprodukt reagieren würden. Die Arbeit an und mit diesen Personas half unserer Arbeitsgruppe, mit den manchmal heftigen Reaktionen, mit denen wir konfrontiert waren, umzugehen und den Prozess so anzupassen, dass er den grundlegendsten Bedürfnissen entsprach.
Die frühzeitige Durchführung einer Umfrage erwies sich auch als sehr interessante und wirkungsvolle Methode, um Mitarbeitende und Stakeholder*innen darauf vorzubereiten, was auf sie zukommen wird.
Wir durchforsteten die Fachliteratur zum Thema Chartas und Verhaltenskodizes nach Ideen, Inspirationsquellen und den besten Beispielen.
Zu diesem Zeitpunkt hätten wir den rechtlichen Rahmen und die von der öffentlichen Hand bereitgestellten Dokumente und Richtlinien viel genauer unter die Lupe nehmen sollen, für einen schnelleren Einstieg in das Thema.
Ausarbeiten
Während wir den Entwurf der Charta vorbereiteten, arbeiteten wir bewusst den Rahmen der Charta aus: alle wichtigen Bezugspunkte im Zusammenhang mit dem Dokument selbst. Dadurch erhielt die Erstellung der Inhalte eine klare Ausrichtung, was unsere Arbeit sehr effektiv machte.
Ein Schlüsselelement dieses Rahmens war es, im Vorfeld zu entscheiden, wie über den Inhalt der Charta entschieden werden sollte – mit anderen Worten, das «Entscheiden, wie man entscheidet»: Wir formulierten einen Prozess zur Änderung der Charta.
Ich befürchtete, dass die inhaltliche Arbeit schwierig werden würde. Ich träumte von einem Co-Kreation-Prozess mit der Arbeitsgruppe, weil sich alle so viel Wissen zum Thema angeeignet hatten. Aber die Vorstellung, zu fünft an der Charta zu schreiben, erschien mir sehr gewagt. Ich schlug daher vor, dass alle Mitglieder der Gruppe ihre eigene perfekte Version der Charta, die während der ersten Monate dieses Projekts in ihren Köpfen entstanden war, zu Papier bringen sollten. Wir gingen sie dann gemeinsam durch und besprachen sie im Hinblick auf ihre Stärken und Schwächen, um anschliessend eine Version als Grundlage für die weitere Ausarbeitung zu wählen.
Es war ein bereichernder Moment, die oft sehr persönlichen und engagierten Stellungnahmen, welche die Intelligenz und Werte ihrer Verfasser*innen widerspiegeln, gemeinsam durchzugehen und zu besprechen.
Feedback einholen
Wir beschlossen, in der zweiten Interaktionsrunde mit den Mitarbeiterinnen und Stakeholder*innen einen Austausch mit allen Liiper*innen durchzuführen. So konnten wir den Entwurf der Charta und den Stand des Projekts erläutern, alle Fragen beantworten sowie Feedback einholen und Bedenken anhören. Wir organisierten Online-Formate, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiterinnen mindestens einmal dabei sein konnten.
Eine Sache, die wir im Vorfeld sorgfältig ausgearbeitet hatten, war die Haltung und die Moderation während dieser Sitzungen. Wir wussten, dass wir während der Sitzungen mit einer Reihe kritischer (und emotionaler) Stimmen konfrontiert werden würden. Uns war klar, dass wir diese Stimmen nicht zum Schweigen bringen dürfen: Wir wussten, dass wir uns an die vorbildlichen Werte, die im Entwurf der Charta niedergeschrieben sind, halten müssen.
Während dieses Prozesses wurde uns klar, dass es Wunder wirkt, die Leute im Boot zu behalten und ihnen eine Stimme zu geben, indem man ihnen respektvoll und aufmerksam zuhört. Nach jeder Sitzung tauschten wir uns in einem Follow-up mit allen aus, die Bedenken oder starke Einwände geäussert hatten. Jedes Gespräch, das wir führten, bereicherte unsere Sichtweise des Themas.
Fertigstellen & einführen
Dieser Schritt war beinahe ein Kinderspiel: Wir mussten uns nur mit dem Legal Circle abstimmen und die Charta in die internen Richtlinien und Dokumente aufnehmen.
Verankern
Die Charta trat am 1. Januar 2023 in Kraft und ist Bestandteil unserer Anstellungsbedingungen. Sie wurde von unseren Mitarbeitenden sehr gut aufgenommen.
Die Unterzeichnung eines Grundsatzdokuments bedeutet ja nicht automatisch, dass man sich auch daran hält. Wir waren jedoch überzeugt, dass der partizipative Prozess das allgemeine Mindset bereits positiv beeinflusst hatte. Daher entschieden wir uns für einen diskreten Einführungsprozess: kein aussergewöhnliches Event, keine grossen Mitteilungen, Reden oder sonstiges.
Auswirkungen & nächste Schritte
Wir haben unser Ziel erreicht und seit 16 Monaten eine Charta, die Teil der grundlegenden Elemente unseres Systems ist – sowohl in menschlicher als auch in organisatorischer Hinsicht. Neue Mitarbeiter*innen müssen die Charta lesen und unterschreiben. In unseren Büros hängen Poster mit den wichtigsten Botschaften der Charta.
Haben wir uns alle in rechtschaffene Engel verwandelt? Nein, keineswegs. Aber die «Verhaltensnormen» und «No-Gos» sind uns klarer geworden. Und bis April 2024 wurde unserem «Hüter der persönlichen Integrität» kein «Verstoss gegen die Charta» gemeldet.
Interessanterweise hatte der partizipative Prozess selbst direkte Auswirkungen, wie eine Umfrage zur Arbeitszufriedenheit ergab: Das Werte-Ranking innerhalb des Unternehmens veränderte sich, wobei Respekt und Diversität an Bedeutung gewannen.
Wir arbeiten aktiv an einem Backlog von Anpassungen, das wir bis 2025 integrieren wollen.
Ausserdem möchten wir die Arbeit an der Charta weiterentwickeln, um sie auch in unseren Kundenbeziehungen einsetzen zu können. Wir sehen die Charta als hervorragende Möglichkeit, um ein sicheres Arbeitsumfeld für alle zu schaffen und Partnerschaften mit unseren Kunden zu stärken.